Was die Didaktik des Deutschen als Fremdsprache angeht, kursieren einige Vorurteile, die insbesondere manchen Literatur- und SprachwissenschaftlerInnen dazu dienen, sich von einander abzugrenzen. Die Literaten kennten zwar Goethes Werke, aber sie seien nicht in der Lage, sich in deutschsprachiger Umgebung ein Hotelzimmer zu bestellen, kritisieren die einseitigen Verfechter kommunikativen Sprachunterrichts, während die lediglich literarisch Orientierten die Lektüre von Gebrauchstexten nur mit gerümpfter Nase betrachten. Sie halten sich, überspitzt ausgedrückt, für die wahren GermanistInnen und die anderen für Fußvolk. Kontraproduktiv sind beide Haltungen, weil sie den Trennungsstrich an einer Stelle ziehen, wo er nicht hingehört. Kommunikative Fähigkeiten können auch aus der Lektüre literarischer Texte heraus entwickelt, und durch die Lektüre von Gebrauchstexten können Kompetenzen erworben werden, die das Lesen schwierigerer, auch literarischer Texte erst möglich machen. Wichtig ist aber für die Lernenden einer fremden Sprache in jedem Falle die frühe Begegnung mit ganzen Texten, denn in den Texten treffen sie auf die zu erlernende Sprache in ihrem spezifisch auf Verdauerung ausgerichteten Gebrauch (Ehlich 2007) und können, das ist hier die lerntheoretische Prämisse, unabhängig von ihrem jeweiligen lexikalisch-semantischen und syntaktischen Kompetenzniveau textuelle Gestaltvorstellungen entwickeln, die ihnen den Weg in die fremde Sprache hinein ebnen helfen. Texte, egal, welcher Spezies (= Art), konstituieren sich durch Sprache, d. h. vermittelst des Mediums Sprache wird individuelle geistig-emotionale Energie erst substanziell und kommunikabel. Texte sind Sprachwerk (Bühler 1934/1982); als Gestalt gewordene Sprache gewähren sie Einblick in die Strukturen und Eigenarten der Sprache, die sie werden ließ, was sie sind. Nur in der Vielfalt ihrer Texte zeigt eine Sprache ihre Potenz und ihre Schönheit. Als Lernende bedürfen wir dieser Vielfalt.
Von der rezeptiven zur produktiven Sprachkompetenz. Reflexionen über einen notwendigen didaktischen Jetlag / Hornung, Antonie. - STAMPA. - 13:(2011), pp. 55-66.
Von der rezeptiven zur produktiven Sprachkompetenz. Reflexionen über einen notwendigen didaktischen Jetlag
HORNUNG, Antonie
2011
Abstract
Was die Didaktik des Deutschen als Fremdsprache angeht, kursieren einige Vorurteile, die insbesondere manchen Literatur- und SprachwissenschaftlerInnen dazu dienen, sich von einander abzugrenzen. Die Literaten kennten zwar Goethes Werke, aber sie seien nicht in der Lage, sich in deutschsprachiger Umgebung ein Hotelzimmer zu bestellen, kritisieren die einseitigen Verfechter kommunikativen Sprachunterrichts, während die lediglich literarisch Orientierten die Lektüre von Gebrauchstexten nur mit gerümpfter Nase betrachten. Sie halten sich, überspitzt ausgedrückt, für die wahren GermanistInnen und die anderen für Fußvolk. Kontraproduktiv sind beide Haltungen, weil sie den Trennungsstrich an einer Stelle ziehen, wo er nicht hingehört. Kommunikative Fähigkeiten können auch aus der Lektüre literarischer Texte heraus entwickelt, und durch die Lektüre von Gebrauchstexten können Kompetenzen erworben werden, die das Lesen schwierigerer, auch literarischer Texte erst möglich machen. Wichtig ist aber für die Lernenden einer fremden Sprache in jedem Falle die frühe Begegnung mit ganzen Texten, denn in den Texten treffen sie auf die zu erlernende Sprache in ihrem spezifisch auf Verdauerung ausgerichteten Gebrauch (Ehlich 2007) und können, das ist hier die lerntheoretische Prämisse, unabhängig von ihrem jeweiligen lexikalisch-semantischen und syntaktischen Kompetenzniveau textuelle Gestaltvorstellungen entwickeln, die ihnen den Weg in die fremde Sprache hinein ebnen helfen. Texte, egal, welcher Spezies (= Art), konstituieren sich durch Sprache, d. h. vermittelst des Mediums Sprache wird individuelle geistig-emotionale Energie erst substanziell und kommunikabel. Texte sind Sprachwerk (Bühler 1934/1982); als Gestalt gewordene Sprache gewähren sie Einblick in die Strukturen und Eigenarten der Sprache, die sie werden ließ, was sie sind. Nur in der Vielfalt ihrer Texte zeigt eine Sprache ihre Potenz und ihre Schönheit. Als Lernende bedürfen wir dieser Vielfalt.Pubblicazioni consigliate
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