Im Beitrag des Modeneser Rechtshistorikers Elio Tavilla wird die Strafgesetzgebung des Fürstenhauses Este im Herzogtum Modena (auch Estensische Gesetzgebung genannt) einer Betrachtung unterzogen, in der die Entwicklungsanalyse stärker als die dogmatische Analyse betont wird. Im 17. Jahrhundert beginnen die Bemühungen, das Strafrecht aus der Hoheit der Kommunen in die landesherrliche Zuständigkeit zu ziehen, mit der Einführung von Berichtspflichten und einer zentralen Behörde zur Entgegennahme dieser Berichte. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts verdichtet sich der landesherrliche Einfluss mit dem ersten Versuch einer offiziellen Sammlung der herzoglichen Gesetzgebung; erst 1771 kommt es zu einer „organischen" Sammlung von Straftatbeständen mit einer vorgängigen Konzentration der Verfahren bei einem einzigen Justizorgan. Nach dem Zwischenspiel der napoieonischen Herrschaft wird das Gesetzbuch von 1771 erneut in Kraftgesetzt und in die während der napoleonischen Herrschaft entstandene hierarchische Gerichtsordnung eingepasst. Die Jahre der Restauration, des Vormärzes und der Reaktion sind gekennzeichnet durch eine Notstandsgesetzgebung gegen politische „Umtriebe", die 1854 zu einem einheitlichen Gesetzeswerk zusammengelasst wurde. Im selben Jahr erging eine Polizeiordnung, und bereits 1832 war ein Militärstrafgesetzbuch ergangen. Mit den zuletzt genannten Normenwerken bildete das Strafgesetzbuch von 1855 einen komplizierten, insgesamt aber durch gegenseitige Ergänzung und Bezugnahme vollständigen Regelungskomplex, der freilich nicht immer klare begriffliche Grenzziehungen aufwies - beispielsweise zwischen den im Strafgesetzbuch geregelten Verbrechen (delitti) und den in der Polizeiordnung geregelten Übertretungen (contravvenzioni); die Konzeption des Gesetzbuchs als komplementäres Glied eines Strafrechtssystems kann daher als sein „Ursprungsmangel" angesehenwerden. Inhaltlich hatte der Normenkomplex seine Vorbilder in italienischen Partikulargesetzbüchern und in der österreichischen Gesetzgebung von 1803/1852. In technischer Hinsicht, vor allem bei den Definitionen, ragt das Strafgesetzbuch unter den italienischen Partikulargesetzen des 19. Jahrhun derts hervor, in manchen Punkten schloss es sich an die aktuelle zeitgenössische Rechtslehre an. Seine Sanktionen waren breit gelächert, es gab ihrer sieben; der richterliche Sanktionierungsspielraum war eng bemessen - ein Zeichen des Misstrauens des Her/ogs gegen Juristen und Richterschaft, das, nicht zuletzt politisch bedingt, ein dialektisch durchaus positiv zu beurteilendes Urteil über die letzteren ausdrückt, wenngleich im Prinzip eine enge Bindung der Richter an das Strafgesetz auch im Bereich der Sanktionen durchaus eine Forderung liberalen Strafrechtsdenkens sein kann.

Strafrecht im Herzogtum Modena: das Kriminalgesetzbuch von 1855. Voraussetzungen, Vorbilder, Probleme / Tavilla, Carmelo Elio. - STAMPA. - 12:(2011), pp. 42-70.

Strafrecht im Herzogtum Modena: das Kriminalgesetzbuch von 1855. Voraussetzungen, Vorbilder, Probleme

TAVILLA, Carmelo Elio
2011

Abstract

Im Beitrag des Modeneser Rechtshistorikers Elio Tavilla wird die Strafgesetzgebung des Fürstenhauses Este im Herzogtum Modena (auch Estensische Gesetzgebung genannt) einer Betrachtung unterzogen, in der die Entwicklungsanalyse stärker als die dogmatische Analyse betont wird. Im 17. Jahrhundert beginnen die Bemühungen, das Strafrecht aus der Hoheit der Kommunen in die landesherrliche Zuständigkeit zu ziehen, mit der Einführung von Berichtspflichten und einer zentralen Behörde zur Entgegennahme dieser Berichte. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts verdichtet sich der landesherrliche Einfluss mit dem ersten Versuch einer offiziellen Sammlung der herzoglichen Gesetzgebung; erst 1771 kommt es zu einer „organischen" Sammlung von Straftatbeständen mit einer vorgängigen Konzentration der Verfahren bei einem einzigen Justizorgan. Nach dem Zwischenspiel der napoieonischen Herrschaft wird das Gesetzbuch von 1771 erneut in Kraftgesetzt und in die während der napoleonischen Herrschaft entstandene hierarchische Gerichtsordnung eingepasst. Die Jahre der Restauration, des Vormärzes und der Reaktion sind gekennzeichnet durch eine Notstandsgesetzgebung gegen politische „Umtriebe", die 1854 zu einem einheitlichen Gesetzeswerk zusammengelasst wurde. Im selben Jahr erging eine Polizeiordnung, und bereits 1832 war ein Militärstrafgesetzbuch ergangen. Mit den zuletzt genannten Normenwerken bildete das Strafgesetzbuch von 1855 einen komplizierten, insgesamt aber durch gegenseitige Ergänzung und Bezugnahme vollständigen Regelungskomplex, der freilich nicht immer klare begriffliche Grenzziehungen aufwies - beispielsweise zwischen den im Strafgesetzbuch geregelten Verbrechen (delitti) und den in der Polizeiordnung geregelten Übertretungen (contravvenzioni); die Konzeption des Gesetzbuchs als komplementäres Glied eines Strafrechtssystems kann daher als sein „Ursprungsmangel" angesehenwerden. Inhaltlich hatte der Normenkomplex seine Vorbilder in italienischen Partikulargesetzbüchern und in der österreichischen Gesetzgebung von 1803/1852. In technischer Hinsicht, vor allem bei den Definitionen, ragt das Strafgesetzbuch unter den italienischen Partikulargesetzen des 19. Jahrhun derts hervor, in manchen Punkten schloss es sich an die aktuelle zeitgenössische Rechtslehre an. Seine Sanktionen waren breit gelächert, es gab ihrer sieben; der richterliche Sanktionierungsspielraum war eng bemessen - ein Zeichen des Misstrauens des Her/ogs gegen Juristen und Richterschaft, das, nicht zuletzt politisch bedingt, ein dialektisch durchaus positiv zu beurteilendes Urteil über die letzteren ausdrückt, wenngleich im Prinzip eine enge Bindung der Richter an das Strafgesetz auch im Bereich der Sanktionen durchaus eine Forderung liberalen Strafrechtsdenkens sein kann.
2011
Jahrbuch 2011
9783110248869
De Gruyter
GERMANIA
Strafrecht im Herzogtum Modena: das Kriminalgesetzbuch von 1855. Voraussetzungen, Vorbilder, Probleme / Tavilla, Carmelo Elio. - STAMPA. - 12:(2011), pp. 42-70.
Tavilla, Carmelo Elio
File in questo prodotto:
Non ci sono file associati a questo prodotto.
Pubblicazioni consigliate

Licenza Creative Commons
I metadati presenti in IRIS UNIMORE sono rilasciati con licenza Creative Commons CC0 1.0 Universal, mentre i file delle pubblicazioni sono rilasciati con licenza Attribuzione 4.0 Internazionale (CC BY 4.0), salvo diversa indicazione.
In caso di violazione di copyright, contattare Supporto Iris

Utilizza questo identificativo per citare o creare un link a questo documento: https://hdl.handle.net/11380/701738
Citazioni
  • ???jsp.display-item.citation.pmc??? ND
  • Scopus ND
  • ???jsp.display-item.citation.isi??? ND
social impact